Grundrechte in der Schule der Vielfalt

Konfliktsituationen veranschaulichen tagtäglich, dass Schule in der Einwanderungsgesellschaft sowohl ein interkulturelles Fingerspitzengefühl als auch einen bewussten Umgang mit Grundwerten entwickeln muss. Wie man mit Widersprüchen bei Demokratie, Kultur und Religion umgehen kann.

Bunte Stühle im Klassenzimmer

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.

Sie traut sich. Kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Januar 2015 trägt die Referendarin das Kopftuch im Unterricht und thematisiert zugleich ihr Verhalten in einer Oberstufenlerngruppe in Bremen, in der zwei Drittel der Schülerinnen und Schüler einen Migrationshintergrund haben und sich mehrheitlich als Muslime verstehen.

Drei von den Schülerinnen tragen selbst ein Kopftuch. „Sollten muslimische Lehrerinnen, die ein Kopftuch tragen möchten, dies jetzt in der Schule tun?“ lautet die Eingangsfrage, die darauf ausgerichtet ist, die Gratwanderung zwischen Assimilation und Eigenständigkeit mit Bezug auf Grundrechte auszuloten. Die Lehrerin kann sich die heikle Situation, in die sie sich und unter Umständen auch die drei Mädchen bringt, leisten, weil sie sich ihrer Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern sicher ist.

Bedeutung des Kopftuchs

Die Atmosphäre in der Lerngruppe ist offen, und es kommt zu einer lebhaften Debatte. Das Recht auf Glaubensfreiheit nach Artikel 4 des Grundgesetzes wird von keinem und keiner Lernenden bestritten. Eher geht es darum, dass das Kopftuch der Einstieg in weitere Verschleierung sein könnte, dass mit dem Kopftuch vielleicht bestimmte Ungleichheitsvorstellungen bezogen auf die Geschlechterrollen verbunden sein könnten.

Dass die Lerngruppe sie auch ohne Kopftuch kennt und als „gerecht“ (Schüleräußerung) erlebt hat, relativiert das von einer Schülerin vorgetragene Argument, sie könne die Schülerinnen mit Kopftuch vorziehen. Eigentlich hat niemand in der Klasse mit ihrem Kopftuch ein Problem: „Wir kennen das ja schon, Süheyla und Nebahat tragen ja auch ein Kopftuch – das ist doch normal“.

Im Laufe des Unterrichts beteiligen sich die kopftuchtragenden Schülerinnen und haben Gelegenheit, auch negative Erfahrungen außerhalb der Schule wie Beschimpfungen darzustellen. Der Blick über die Grenzen der gelebten religiösen Vielfalt im Klassenverband hinweg verdeutlicht ein gesellschaftliches Problem und sichert den drei Kopftuchträgerinnen gleichzeitig die Empathie der Mitschülerinnen und Mitschüler, die sich deutlich gegen Diskriminierung aus religiösen Gründen aussprechen.

Streitkultur entwickeln

Wie erfolgreich wäre dieser Ansatz von Menschenrechtsbildung gewesen, wenn die Stunde hier beendet gewesen wäre?

Die Mehrheit auch der nicht-muslimischen Jugendlichen folgte der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts; sie empfanden auf dem Hintergrund der gemeinsamen Erfahrung in der Lerngruppe diese Kopftuch tragenden Mädchen und die Lehrerin nicht als Bedrohung eigener Werte und somit als nicht störend für den Schulfrieden.

Der Umgang mit religiöser und kultureller Vielfalt gehört für sie zum Schulalltag. Der Perspektivwechsel zu den Folgen von Diskriminierung aus religiösen Gründen war geglückt. Die Lernenden waren scheinbar sicher mit dem Bezug auf Grundrechte und schienen einen Konsens zu haben.

Und dann wurde es spannend: Die Lehrerin zeigte ein Bild eines Mannes mit einer Kippa und verwies auf antisemitische Angriffe in Berlin. Was dann folgte, war das, was so oft nicht stattfindet: die offene Kontroverse, die Realität von Demokratieerziehung, in der Intoleranz, Vorurteile, Ungleichheitsvorstellung und den Grundrechten widersprechende Positionen geäußert und vertreten wurden.

„Der ist selbst schuld.“ – „Das ist nicht die richtige Religion.“ – „Es gibt nur einen Allah.“ – „Der ist Jude, die sind selbst nicht demokratisch. Die bringen die Palästinenser um.“

Grundrechte für alle

Plötzlich wurde deutlich, dass viele der Jugendlichen zwar mit Bezug zu den Grund- und Menschenrechten für die Verteidigung ihrer Position argumentieren konnten, aber ein tieferes Verständnis für Freiheits- und Gleichheitsrechte längst nicht bei allen vorhanden war. Die Diskussion in der Lerngruppe führte zu der gewünschten Konfrontation zwischen ihren Mitgliedern:

  • „Ihr nehmt für euch ein Grundrecht in Anspruch, das ihr anderen nicht gewähren wollt, das ist ein Widerspruch. Da stimmt was nicht.“
  • „Religionsfreiheit kann nicht nur für Muslime gelten.“
  • „Gleichheit und Freiheit gelten für alle.“
  • „Du hast vorhin selbst gesagt, wie gut du Hatice verstehen kannst, wenn sie sich schlecht fühlt, weil jemand sie nicht so sein lässt, wie sie ist. Der mit der Kippa fühlt sich auch schlecht, wenn er bedroht wird.“

Grundgesetz verstehen

Das Vorgehen der Lehrerin, mit der Kopftuchfrage zunächst einen gruppenbildenden Prozess anzustoßen, von dem sie annahm, dass sie einen Konsens in der Klasse schaffen würde, war sinnvoll. Einerseits konnten die Schülerinnen und Schüler mit ins Boot genommen werden, die das Kopftuch als Bestandteil ihrer Religion und Kultur ansahen, andererseits diejenigen, die – auch wenn sie im Prinzip nicht für das Kopftuch in der Schule waren – im Sinne der Religionsfreiheit argumentieren würden und im Kopftuch keine Bedrohung und Herausforderung sahen.

Diese Lehrerin kannte die Einstellungen ihrer Lerngruppe gut, und vor allem – sie hatte selbst eine klare Orientierung bezogen auf Menschenrechtserziehung. Zudem hatte sie den Mut, sich in eine Debatte zu begeben, von der sie annehmen musste, dass sie sehr kontrovers sein würde.

Sie forderte die jungen Leute heraus, den Schritt von der grundrechtsbezogenen Argumentation ihrer eigenen Interessen hin zu einem für alle geltenden Verständnis des Gleichheitsprinzips zu vollziehen, und ermöglichte zudem den Einblick und das Verständnis für im Grundgesetz angelegte Spannungsverhältnisse zwischen Grundrechten.

Gleichheit und Freiheit für alle - Raum für demokratische Identitätsbildung

Eine solche Stunde wird nichts an den Einstellungen und Haltungen derjenigen Jugendlichen ändern, die für ihre eigenen Interessen argumentiert hatten und Toleranz und Respekt einforderten, ohne das Gleichheits- und Freiheitsprinzip für andere als gültig anzusehen. Eine solche Debatte kann aber einen Impuls setzen, Fragen aufwerfen und Prozesse anregen. Sie ist ein Beitrag zur Entwicklung einer notwendigen Streitkultur, die im Zuge der PISA-Schule offenbar verloren gegangen ist.

Für Demokratieerziehung in der Schule stellt sich die Frage, inwieweit Schulkultur und die schulische politische Bildung systematisch Raum bieten für die Entwicklung einer demokratischen Identität. Inwieweit bekommen Kinder und Jugendliche auf der Basis von Menschenrechtsbildung Impulse zur Reflexion und Auseinandersetzung mit in der eigenen Familie, sozialen Gruppe, der Peergroup und im eigenen sozialen und religiösen Umfeld verankerten Überzeugungen?

Inwieweit wird kritisches Denken bezogen auf demokratische Normen und deren staatliche und gesellschaftliche Umsetzung gefördert, wenn Politikunterricht als ein möglicher Ort dieser demokratischen Identitätsbildung vielfach um seine Existenz als eigenes Fach kämpfen muss oder – falls als Fach existent –, sich wie in vielen Berufsschulen ständig der Vereinnahmung durch betriebswirtschaftliche schulinterne Curricula widersetzen muss?

Herausforderungen

In der Schule tätige Pädagog/innen und Mitarbeiter/innen sehen sich bei der Herausforderung, Schule in der Einwanderungsgesellschaft zu gestalten, (zumindest in den Großstädten mit Einwanderungsgeschichte) mit diversen argumentativen Grundmustern von Schülerinnen und Schülern sowie Eltern konfrontiert.

In der Auseinandersetzung mit diesen greift die Strategie, auf kulturelle Vielfaltstoleranz zurückzugreifen, oft zu kurz, weil die Norm eines Wertepluralismus in einer diversen Gesellschaft Beliebigkeit suggeriert und das Freiheits- und Gleichheitsgebot des Grundgesetzes und der Menschenrechte, auf dessen Basis dieser Pluralismus nur demokratisch denkbar ist, nicht erfasst.

Grundmuster in der Auseinandersetzung

  • Toleranzeinforderung

Dem Grundmuster der Toleranzeinforderung, das im Eingangsbeispiel erwähnt wurde, begegnen wir im Diskurs im interkulturellen bzw. transkulturellen Kontext häufiger. Hierzu zählt z.B. die Verweigerung des Handschlags aus religiösen Gründen.

Diese Argumentationslinie bezieht sich auf die gesellschaftliche Akzeptanz des – in diesem Fall religiösen – Andersseins: Lass mich so sein, wie ich möchte, ich füge dir keinen Schaden zu; respektiere mich, auch wenn ich anders bin. Problematisch wird diese Argumentationslinie dann, wenn sie nur der Durchsetzung der eigenen Perspektive dient.

Jugendliche, die in den Genuss von Gemeinschaftskunde- oder Politikunterricht gekommen sind, wissen oft, welche Rechte eine demokratische Gesellschaft bietet, geraten aber mit demokratischen Grundeinstellungen dann durch ihre Haltung in Konflikt, wenn ähnliche Toleranzanforderungen Andersdenkender abgelehnt werden.

  • Freie Religionsausübung

Eine weitere, explizit auf Religionsfreiheit ausgerichtete Argumentation ist mit der Forderung der freien Religionsausübung (Forderung nach Gebetsraum nur für die eigene Religion, Forderung, den Unterricht für Gebete verlassen zu dürfen) verbunden. Sie wird zum Teil von sehr religiös ausgerichteten Jugendlichen vertreten und von solchen, die an der Schwelle der Radikalisierung stehen.

Die differenzierte Interpretation des jeweiligen Anliegens und die Unterscheidung zwischen politischer Instrumentalisierung religiöser Normen und realem fundamentalistischem Religionsverständnis ohne politische Zielsetzung erfordert kollektive Reflexion und ggf. Beratung im Kollegium.

  • Gleichberechtigung

Das Einfordern von gleichberechtigter Anerkennung der eigenen Kultur und Religion und damit verbundener Verweigerung der Beteiligung an schulischen Prozessen oder im Unterricht wird im Kollegium oft als Forderung nach Sonderrechten wahrgenommen: Nichtteilnahme von Mädchen an Klassenfahrten, Schwimmunterricht etc.

Verbunden mit diesen Forderungen und Argumentationslinien ist seitens der Fordernden meist eine Lebenssituation, in der sich die jeweiligen Personen zwischen widersprechenden Werteanforderungen befinden, wobei eine eindeutige Dominanz der eigenen religiösen Werte nicht in Frage gestellt wird. Daraus ergeben sich Ängste gegenüber den mit anderen Werten verbundenen Kontexten. Hierbei geht es tatsächlich um eine zivilgesellschaftliche Kontroverse, die nicht mit dem Auftreten einer per se demokratiefeindlichen Haltung verwechselt werden sollte.

Schule zwischen Demokratie als Herrschafts- und als Gesellschaftsform

Seitens der Schulleitung können schulrechtlich klare Regeln durchgesetzt werden. Die Schulleitung und Schulaufsicht können auf die Rechte der Schule nach Artikel 7 des Grundgesetzes verweisen, um den Demokratienormen auf der Ebene der Demokratie als Herrschaftsform zu entsprechen.

Zu klären wäre allerdings vorher, wo der Konflikt in erster Linie angesiedelt ist. Manchmal geht es nämlich unter zivilgesellschaftlicher Perspektive um Gestaltungsfragen der Migrationsgesellschaft, also im Sinne Himmelmanns um die Ebene der Demokratie als Gesellschaftsform.

Inzwischen gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie Schulen den Konflikt zwischen Demokratie als Herrschaftsform (Erziehungsaufgaben der Schule) und Demokratie als Gesellschaftsform (Aufgabe, die Schule als gesellschaftliche Institution weiterzuentwickeln) positiv lösen: Elternabende mit Elternlotsen; Vätercafé und Information über pädagogische Dimensionen der Klassenfahrt; multiethnische und multilinguale Teams von Pädagoginnen und Pädagogen.

Nötig: Politisches und pädagogisches Konzept von Demokratie

An diesem Beispiel wird erstens deutlich, dass innerhalb des Kollegiums konfliktbezogene Analysekompetenz vorhanden sein muss. Diese kann sich nur aus Kategorien politischer Bildung ergeben. Zweitens erfordert die Einschätzung, auf welcher Ebene der Konflikt prioritär angesiedelt ist und welche Handlungsoptionen damit verbunden werden, politisch-gesellschaftliches Denken.

Es geht um die Fähigkeit, die Durchsetzung demokratischer Normen als notwendigen Schutz einer demokratischen Gesellschaft mit einem Prozess der gesellschaftlichen und persönlichen Demokratiebildung zu verbinden und den Diskurs mit Eltern aufzunehmen. Bezogen auf Elternkooperation im interkulturellen bzw. transkulturellen Kontext gibt es erheblichen Bedarf, wobei sowohl die institutionelle Seite als auch die Elternschaft sich in einen kritischen Dialog über Schule in der Migrationsgesellschaft begeben müssten.

„Es gibt keine Demokratie ohne Demokraten“ – die Aussage von Himmelmann wirft die Frage auf, wie sicher Lehrkräfte in Fragen von Demokratieentwicklung und politischer Bildung sind.

Eines ist klar: Schule an der Schnittstelle von Demokratie als Staatsform und Demokratie als gesellschaftlicher Lebensform in der Migrationsgesellschaft braucht vom Konzept der Demokratie überzeugte Demokrat/innen als Lehrkräfte und Mitarbeiter/innen. Zu dieser Haltung gehört die Bereitschaft, an der Entwicklung der Demokratie zu arbeiten.